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Was zählt, ist der Augenblick

Sabine M. Gruber, Dezember 2009

„Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten“ heißt das Harnoncourt-Buch von Sabine M. Gruber

Es erschien erstmals 2003 und hat seither mehrere Auflagen erlebt. Aus der vollkommenen Unmöglichkeit, Nikolaus Harnoncourt umfassend zu würdigen, hat sie nun das ihr Mögliche gemacht: einen sehr per­sönlichen Text geschrieben.
Nikolaus Harnoncourt zum 80. Geburtstag.

Kann ich etwas Neues über Nikolaus Harnoncourt erzählen? Vor zehn Jahren konnte ich es tun, sogar vor fünf Jahren noch war es möglich – erstaunlich genug. Heute jedoch könnte ich bestimmt nichts mehr erzählen, was nicht längst irgendwo zu hören, zu sehen oder zu lesen gewesen wäre.

Wer bin ich überhaupt. Ein zweiter Alt in einem Chor, der Nikolaus Harnoncourt durch fast dreißig Jahre begleitet, beinahe exklusiv, so gut wie immer und überall, wo er einen vokalen Klangkörper braucht. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert also bin ich ganz am Rande mitten drinnen, in diesem unglaublichen Künstlerleben. Was für ein Glück. Gleichschwebend aufmerksam nehme ich wahr, wie dieser Mann Einfluss nimmt auf meine Sicht der Dinge, ob ich es will oder nicht; wie er die Welt (von dieser selbst meist unbemerkt) verändert, ebenso schleichend wie hartnäckig, unbeirrbar, subversiv, in gewisser Weise. Ich behaupte nämlich, dass Nikolaus Harnoncourt, allen Starkultbemühungen rund um seine Person zum Trotz, auch heute nicht Weltstar ist, sondern Außenseiter, dass er Zeit seines Lebens Außenseiter bleiben wird. Die Anrede Maestro kommentiert er heute zwar nicht mehr, Freude hat er damit nie gehabt: „Sagen Sie nicht Maestro zu mir, das erinnert mich an einen Friseur!“

 

Musik ist jetzt
Bei „Dido and Aeneas“, Anfang der Achtziger des vorigen Jahrhunderts, bin ich ihm zum ersten Mal begegnet, mit gespannter Neugier. Damals war er mit Sicherheit nicht Weltstar, nicht Maestro, nicht Professor, nur das, was am Ende wirklich zählt: Nikolaus Harnoncourt.

Erste Aufnahmesitzung im Wiener Casino Zögernitz mit dem Concentus Musicus und namhaften Solisten. Harnoncourts zweites großes Projekt mit dem Arnold Schoenberg Chor und mein erstes mit ihm. Wenn ich an diese erste künstlerisch menschliche Begegnung denke, breitet sich in mir das Gefühl aus, das allen weiteren Begegnungen immanent sein wird: aufmerksame, konzentrierte, positive Spannung, die sich in Kunst entlädt.

In diesen wenigen Stunden und Tagen schon erlebe ich alles, was ihn ausmacht. Wie er mit anderen Menschen umgeht. Wie er mit sich selbst umgeht. Wie er mit Musik umgeht. Wie er mit Sprache umgeht. „Geht das noch? Oder brauchen Sie eine Pause?“, fragt er den Chor nach geraumer Zeit. Ungewöhnlich. Er betrachtete uns als menschliche Wesen mit Bedürfnissen. Unglaublich! Er selbst hingegen – braucht schon damals keine Pause.

Viele Jahre später noch wird er uns mit seiner sagenhaften Disziplin verblüffen und beschämen. Uralt werden wir uns vorkommen neben ihm, der so wie wir von einer anstrengenden Japan-Tournee halb bis dreiviertel krank zurückkommt. „Ihr müssts entschuldigen“, krächzt er in der Probe für ein Abo-Konzert im Musikverein, „ich kann nicht sprechen, ich hab fast keine Stimme, also seids so nett und machts keinen unnötigen Lärm.“ „Nur“ eine Probe – gibt’s nicht, Musik ist jetzt und nicht erst im Konzert und gestern war gestern und ist definitiv vorbei. „Danke für die Tournee, war ganz toll! So, und jetzt sind wir in der Nummer 4 …“ Was zählt, ist: Der Augenblick und der danach.

 

Tiefste Menschen-Kunst
Um in „Dido“ bei „In our deep vaulted cell“ die perfekte Illusion eines Höhlenklangs zu erzeugen, von dem er eine sehr präzise Vorstellung hat, lässt er uns bei der Aufnahme experimentieren. Auf absolut unmögliche Ideen kommt er – Chor singt im Nebenraum, hält sich die Hand vor den Mund, singt nach hinten. Und dann fragt er uns nach unserer Meinung! Er behandelt uns wie Individuen, wie Menschen. Es gibt für ihn keinen Solistenkult, und Chorsänger sind nicht Musiker zweiter Klasse.

Jahre später wird er uns allen die vielleicht beeindruckendste Lektion erteilen, was den wertschätzenden Umgang mit Menschen betrifft. Schumanns Oper „Genoveva“, konzertante Aufführung im Grazer Stephaniensaal. Erste Chor-Orchester-Probe für ein gewaltiges, komplexes, fast unbekanntes Werk, das ihm wahnsinnig am Herzen liegt. Die Probenzeit ist extrem knapp bemessen. Wir kommen unverschuldet zu spät auf die Bühne, kämpfen mit Chorpartituren ohne Stichnoten, verpatzen einen Einsatz. Die Probenatmosphäre ist leicht angespannt. Endlich Pause. Ende der Pause. Stille. Nikolaus Harnoncourt tritt feierlich vor den Chor und – er sei ungeduldig mit uns gewesen und habe uns angefaucht sagt er, das sei nicht in Ordnung gewesen und täte ihm leid. Er entschuldigt sich! Und wir haben nicht einmal bemerkt, dass er überhaupt etwas zu Entschuldigendes getan hätte.

 

Sprachbeflügelt – und sprachlos
„Blumen streuen und winken!“, ruft er uns zu, während wir Purcell’s „To the hills and the vales“ singen. Zum ersten Mal, halb bewusst nur, nehme ich seine faszinierenden Fähigkeit wahr, musikalische Visionen durch sprachliche Bilder zu vermitteln. Und in meiner Eigenschaft als total versprachlichtes Wesen gewinnt er mich spätestens in diesem Augenblick als lebenslanges Groupie: Bis heute macht ihn seine musikalische Sprachaffinität für mich unwiderstehlich. Ich schreibe also an diesem denkwürdigen Tag mein erstes, eigentlich ganz unspektakuläres Harnoncourt’sches Sprachbild groß in meine Noten, und von Stund an alle bildhaft musikalischen Anweisungen, Erklärungen, Bemerkungen, die mir zur Verwirklichung seiner Vorstellungen subjektiv wichtig erscheinen und die ich aufzuschreiben vermag, ohne meine eigentliche Aufgabe (das Singen im zweiten Alt), zu vernachlässigen.

Damals ist mir nicht bewusst, wie wichtig dieses Aufschreiben ist, historisch betrachtet, jedoch, und das ist noch viel erstaunlicher: Nikolaus Harnoncourt selbst weiß noch gar nicht, dass es genau das ist, was ihn von allen anderen Dirigenten dieser Welt unterscheidet: seine alle Sinne erfassenden bildhaften musikalischen Visionen und ihre Vermittlung in sprachlichen Bildern. Viele Jahre später, ein kleines blaues Buch mit einer Auswahl dieser Aussprüche in Händen haltend, wird er mir schreiben: „Also ich bin sprachlos, ob Sie’s glauben oder nicht; kommt nicht oft vor. Und: Es scheint mir fast ein Gegenbeweis zu sein gegen die oft zu lesende Behauptung, ich sei total humorlos.“

 

Explorativer Widerspruchsgeist
Das Geschenk-Büchlein zu seinem 70. Geburtstag, in einem einzigen Exemplar erschienen, trägt den Titel „Die Straßenbahn fliegt in der Luft“ und ist die Urform von „Unmöglichkeiten sind die schönsten Möglichkeiten“. Als später die Frage einer Veröffentlichung auftaucht, sagt er zweifelnd: „Meinen Sie, dafür wird sich jemand interessieren?“ Die Antwort ist Geschichte – heute gilt Nikolaus Harnoncourt als ganz besonders witziger Dirigent und seine originellen Aussprüche werden allerorten zitiert. Obwohl – Dirigent, ist das nicht zu wenig umfassend? Ich bezeichne ihn für mich immer lieber als: Musiker.

Und auch witzig trifft nur einen Teil seines Wesens, denn er hat Humor, und das ist viel mehr als Witz. Humor setzt großen Ernst voraus und auf jeden Fall die Fähigkeit, sich selbst auf heitere Art in Frage zu stellen. In Frage stellt er grundsätzlich alles. Sein erstes Wort, so erzählt er selbst, sei nein! gewesen. Diesen Widerspruchsgeist hat er sich bewahrt, kindlich neugierig, explorativ: Jeder Winkel, egal wovon, muss erkundet und entdeckt werden, mit Geist und mit allen Sinnen.

 

„… die besten Sänger der Welt“
Als die „Styriarte“ noch ein ganz junges und kleines Festival ist, wird „Dido and Aeneas“ im Grazer Schauspielhaus später szenisch aufgeführt. Der Chor singt in Quartette eingeteilt, in Logen isoliert, hinter weißen Masken, mit weißen Handschuhen gestikulierend – unmöglich? „Das könnte ich mit keinem anderen Chor der Welt machen.“ Die solistischen Rollen sind nahezu perfekt besetzt: nahezu. „Wissen Sie, ich versuche die Besetzung zu beeinflussen, aber wenn sie einmal feststeht, dann sind das für mich die besten Sänger der Welt.“ Wo und bei wem sonst hätte ich diese ebenso menschliche wie professionelle Einstellung erfahren können?

Ich könnte jetzt, könnte ich sagen, noch seitenweise darüber berichten, wie ich in all den Jahren von und mit Nikolaus Harnoncourt gelernt habe. Doch ehrlich gesagt: Genau das könnte ich nicht. Denn es ist viel eher so, wie man als Kind eine Sprache lernt. Am Ende spricht man sie fließend, ohne zu wissen, wie genau es dazu gekommen ist. „Das kann schon sein, aber wisst ihr“, sagt er in einer Probenpause von Beethovens „Missa Solemnis“ in der Royal Albert Hall in London, als sich zwei von uns für alles Mögliche bei ihm bedanken, „ich habe auch sehr viel von euch gelernt.“

 

Größtes kindliches Urvertrauen
Nun feiert er also, am Sankt-Nikolaus-Tag des Jahres 2009, seinen bisher rundesten Namenstag, der, soviel ich weiß, wie immer auf seinen Geburtstag fällt. Und mit seinem Namen ist das so eine Sache. Die Schmeichler und Adoranten sagen über ihn: Der Maestro. Die, die ihn nicht so gut kennen oder nicht so recht wissen, ob sie ihn mögen sollen, bezeichnen ihn, mit Respektabstand, als: Der Harnoncourt, wenn sie über ihn sprechen. Mit nur wenigen Menschen ist er per Du, und man erkennt sie unschwer daran, dass sie sagen: Der Nikolaus. Wir in diesem ihn seit Jahrzehnten begleitenden Chor, sprechen ihn mit: Herr Harnoncourt an. Wenn wir aber intern von ihm sprechen oder in der Straßenbahn, dann sagen wir, seit ich denken kann und ganz ohne nachzudenken: Der Niki.

Ich glaube, es gibt niemanden, vor dem wir so hohen und tiefen Respekt haben. Also kann dieser Name nur das eine ausdrücken: Das größte kindliche Urvertrauen in den Menschen und Musiker Nikolaus Harnoncourt, das sich denken lässt.

 

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