• Auszeichnung

Georg-Philipp-Telemann-Preis der Stadt Magdeburg

Verleihung am 11. März 2004 als Würdigung für Nikolaus Harnoncourts Wirken für die Verbreitung der Werke Telemanns.

Im Rahmen der 17. Magdeburger Telemann Festtage, bei denen Nikolaus Harnoncourt mit Telemanns Oratorium „Der Tag des Gerichts“ gastierte, erfolgte die Verleihung des mit 2.500 Euro dotierten Georg-Philipp-Telemann-Preises der Landeshauptstadt Magdeburg an den Dirigenten.

„Die Landeshauptstadt Magdeburg würdigt damit Nikolaus Harnoncourts weltweites Wirken für die Verbreitung der Werke Telemanns. Mit seinem Ensemble Concentus Musicus Wien leistete Nikolaus Harnoncourt in zahlreichen Konzerten und CD-Einspielungen einen großen Beitrag zur Popularisierung der Musik Georg Philipp Telemanns.“

Die Laudatio auf Nikolaus Harnoncourt hielt der Musiker Reinhard Goebel:

„Nikolaus Harnoncourt wird hier und heute – nach gehaltener Rede – mit dem Telemann-Preis der Stadt Magdeburg ausgezeichnet: eine paradoxe Situation, da in den Kreis der bislang Geehrten und mit diesem Preis ausgezeichneten Musiker und Wissenschaftler erst jetzt mit doch erheblicher Verspätung derjenige aufgenommen wird, ohne den „Alte Musik“ im vergangenen 20. Jahrhundert kaum denkbar war und auch im angebrochenen 21. wohl kaum sein wird, eine Musikerpersönlichkeit von solchem Rang und solcher Ausstrahlung, dass man geneigt sein könnte, ernsthaft über den Spruch „finis coronat opus“ nachzudenken.

Nur vordergründig noch paradoxer mag es erscheinen, dass einem Kollegen aus der „Musikanten“-Zunft – Johann Adolf Scheibe war es, der Johann Sebastian Bach in eindeutiger Beleidigungs-Absicht so bezeichnet hat – und dann auch noch ausgerechnet mir (der ich als spitzfindig, scharfzüngig, sarkastisch, kritisch und boshaft berüchtigt und entsprechend beliebt bin) die Aufgabe zufällt, Nikolaus Harnoncourt im Kreis der Telemann-Preisträger nicht nur eventuell und beiläufig zu begrüßen, sondern hier vor Ihnen allen diese „Laudatio“ zu halten.

In der Tat ist es nicht herkömmlicher Brauch, dass ein Musiker über den anderen etwas anderes als nur Schmähreden im Koffer hat, und reichlich ungewohnt ist es in Zeiten des „Generationen-Konflikts“ zudem auch, dass der Jüngere den Älteren lobt: Aber es ist nur die vermeintlich „öffentliche Meinung“ der Kultur- Zaungäste, die die Welt in schwarz-weiß, richtig-falsch teilt und Gräben aushebt, wo keine sind, sein können und dürfen. Das zu erkennen, ist für den immer unter Profilierungs-Druck stehenden, vor allem aber den jungen Musiker nicht immer leicht…

Nikolaus Harnoncourt hat den Bereich der „Alten Musik“ nicht geschaffen, nicht erfunden – aber er hat ihn durch seine Leistungen hoffähig gemacht und dessen erst noch enge Grenzen ausgeweitet – und ihn inzwischen auch längst verlassen. Er ist mit seiner in den 70ern als eher provokant empfundenen, dennoch so rundherum wahren Definition, dass jede Musik von vorgestern oder gestern gar per definitionem schon „Alte Musik“ sei, in die Bereiche der Sinfonik, der Oper und der Operette gar des 19. Jahrhundert vorgestoßen. Nikolaus Harnoncourt hat die Türen aufgestoßen und Anlass gegeben zu so ungemein vielfältiger praktischer und wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem musikalischen Erbe, dass erst in der Retrospektive klar werden wird, welchem musikalischen Genius hier und jetzt der Telemann- Preis verliehen wird.

Erst der „distant mirror“, die Betrachtung aus der Ferne, wird zeigen, was Harnoncourt „angerichtet“ hat – denn in der Tat ist unser zeitgenössischer Blick viel zu beengt. Karajans Wohlklang-Orgien und Böhms Konsens-Musizieren (auf sie fällt ja bereits der Blick zurück) haben jedenfalls weder zu ihrer Zeit noch danach in irgendeiner Form die Musik-Wissenschaft beunruhigt oder gar in Musikerkreisen für „molto discutabile“ gesorgt – im Gegenteil: Sie verbreiteten gepflegte Langeweile und Duldungsstarre.

Harnoncourt war es, der durch seine Art des Musizierens und durch seine Art, Musik auf die Bühne zu bringen, die Anschauung, Musik sei vor allem erst einmal gut, wahr und schön, arg ins Wanken brachte – vor allem aber jener Nachkriegs-Mentalität arg zusetzte, derzufolge nur Bach, Mozart, Beethoven und Brahms gut, wahr und schön und der aktiven Pflege wert seien. Harnoncourt bot vor allem in den frühen Jahren mit seinem Ensemble Concentus Musicus erst einmal Musik, von der man angenommen hatte, dass sie kaum für’s studentische Collegium Musicum taugte: Peurl, Posch, Scheidt, Biber, Muffat und auch Telemann – und brachte allein mit dieser Repertoire-Auswahl schon ein Weltbild ins Wanken: ein Weltbild, das vom Adorno’schen Fortschrittsglauben und jenem dictum „sie sagen Bach – aber sie meinen Telemann“ geprägt war. Mit Bedauern ist festzustellen, dass die frühen Aufnahmen des Concentus Musicus beim österreichischen Label Amadeo schon seit Jahrzehnten nicht mehr greifbar sind, belegen diese Aufnahmen doch gerade die schroffe Abkehr vom bräsigen, breiigen Klang, mit dem andernorts in den 50er und 60er Jahre so manche Rosenmüller-Sonate „fertiggemacht“ und plattgewalzt wurde. Dass sich unter diesen stilbildenden Aufnahmen bereits der 3.Teil von Telemanns Tafelmusik befand, sei nur am Rande bemerkt.

Heute, wo die alte Musik etabliert ist, und sich fast jedes Sinfonie-Orchester, mit alten Bögen bewaffnet, über Triller auf der leeren e-Saite hermacht, doppelt punktiert, wo’s ein einfacher Punkt auch täte (wenn er denn „zusammen“ wäre!), musikalische Gestik zum bisweilen fast unerträglichen Gestikulieren, sicher aber zum ubiquitären Gemeinplatz verkommen ist, machen wir uns kein Bild mehr davon, wie boshaft meistens, sachfremd aber immer die „öffentliche“ Meinung auf den frühen Harnoncourt reagierte – denn man erkannte nicht, was er gab, umso mehr aber, was er nahm: Den Instrumentalisten nahm er den klebrigen „Bach-Strich obere Hälfte“, dem Kirchenchor „sein“ Repertoire, ja die „Kirchenmusik als wiedergefundene Mitte“ – und vielen anderen liebgewonnene Feind-Bilder: Es war Nikolaus Harnoncourt, der durch sein vitales, energiereiches, hörbar bedingungslos dem Werk verpflichtetes Musizieren den „Kleinmeister“ zu Grabe trug und dafür „Strafe muss sein!“ zum Feindbild stilisiert wurde… dürr, blutleer, blass, manieriert, museal nannte man sein Musizieren… vor allem in offiziösen Kreisen.

Der fachfremde Literat Wolfgang Hildesheimer hielt den Concentus Musicus für ein veritables Abbild der Hölle, und das Fachorgan „Musik und Kirche“ erging sich heftweise in erschreckenden Verbalinjurien gegen Harnoncourt und sein Ensemble… Ein Präsident des deutschen Tonkünstler-Verbandes fragte sich 1962 vermutlich eher rhetorisch, aber immerhin öffentlich im Hinblick auf Bach und sein Instrumentarium: „Was konnten und mochten damalige Instrumentalisten auf damaligen Instrumenten (ohne Kammerton, ohne Kenntnis präziser Intonation) in damaligen Räumen (ohne Lüftung und mit Kerzenhitze) an Klängen hervorgebracht haben?“ – und hielt es für eine „von Bach selbst autorisierte Praxis“, im 3. Brandenburgischen Konzert anstelle der beiden überleitenden Akkorde zwischen erstem und zweitem Satz einen langsamen Chorsatz einzufügen, um aus dem zweisätzigen Werk ein Norm-Konzert zu machen.

Aber es gab auch Menschen, vornehmlich jüngere, die hingerissen waren von den Farben des Barock- Orchesters, überhaupt dem Neuland, das Harnoncourt physisch wie psychisch zugänglich machte. Und so spalteten Nikolaus Harnoncourt und der Concentus Musicus Familien, Blockflöten-Quartette, Kirchenchöre, Abitur- und Hochschulklassen.

Tiefes, offenbar unbändiges Interesse an Musik und nur Musik ist Harnoncourt zu bescheinigen: Und so verlief ein 1978 in Marburg inszeniertes Gipfeltreffen mit dem als „Zeuge der Anklage“ mächtig in Szene gesetzten Helmuth Rilling und dem als Großinquisitor auftretenden, ja agierenden Professor von Dadelsen gänzlich unspektakulär, frei von jeglicher persönlicher Eitelkeit seitens Nikolaus Harnoncourts und – man muss schon im Sinne der „auf Konfrontation“ erpichten Zaungäste sagen – „leider“ vollkommen uneklatant.

Nikolaus Harnoncourt hatte der gerade in Blüte geratenen Urtext-Euphorie einen schweren Schlag dadurch versetzt, dass er den wohlgemerkt gebildeten und in der Sache erfahrenen Praktiker über den mit dem Zentimeter-Maß bewaffneten und operierenden Herausgeber stellte und zudem klar machte, dass zwischen der Edition einer Konzept-Partitur und einer bewegenden Werkdarbietung doch wohl ein himmelweiter Unterschied sei, und Gleichförmigkeit – „von Takt 4 bis 18 bitte mezzo-piano, dann zwei Takte mezzo-forte, dann bitte zwei Takte decrescendo…“ – der Tod jeglicher musikalischer Rede-Charakteristik, ja charaktervollen Musik sei…

Sieger nach Punkten, nach Argumenten und Besonnenheit bei diesem Schlachtfest (es ist genau 25 Jahre her!), diesem intendierten „Tag des Gerichts“, in dem sich insonderheit die deutsche Musikwissenschaft gegen den vehement ihre alleinige „Deutungs-Hoheit“ bestreitenden Musiker in Szene setzte, und in dem sämtliche Parameter seines Musizierens – Tempo, Dynamik, Artikulation, Ornamentik, ja selbst der Männer-Alt und der Knabenchor – in bisweilen hinterfotziger, immer aber pharisäerhafter Art auf’s Korn genommen wurden, blieb ganz eindeutig Nikolaus Harnoncourt. Nur ein einziges Mal erwehrt er sich mit einem Machtwort – „so gerichtlich möchte ich eigentlich nicht gefragt werden“ – der von allen Seiten heranstürmenden Meute, deren Biss-Laune auch Christoph Wolff, der Moderator des Gesprächs und damals wie heute aktive Sympathisant Harnoncourts, kaum zu zügeln wusste.

Man muss sich fragen, warum aus der Schar der etwa gleichaltrigen Musiker, die sich in den 50ern mehr oder minder mit alter Musik „befassten“ und in den 60ern den aufblühenden Schallplattenmarkt eroberten, einer Schar, zu denen auch viele meiner physisch veritablen Lehrer gehörten, Nikolaus Harnoncourt nicht „übrig“ blieb, sondern wie ein Phoenix aufsteigend alle Konkurrenten vergessen machend hinter sich ließ. Sollte es der Wahlspruch „Chi dura la vince“ – wer ausharrt, siegt – sein, den Harnoncourt der Oper des von ihm in so glühenden Aufnahmen beschworenen und dadurch wieder ins Publikums- Bewusstsein gebrachten H.I.F. Biber entnommen haben könnte?

Nein: Es ist das unbändige Interesse an Gestaltung und Ausdruck, an unmissverständlicher Klarheit und undeutbarer Eigentlichkeit, an charismatischem Engagement, das in beinahe jedem Ton, sicher in jedem Takt, in jeder musikalisch-motivischen Geste des Nikolaus Harnoncourt hörbar ist und sich fesselnd bemerkbar macht. Heißt es am Ende eines Bach’schen Rezitativs, das von der Verdammung des Christen-Menschen angesichts falscher, verblendender Lehren spricht: „drum hast Du auch den Leuchter umgestoßen“, so übersetzt der Cellist Harnoncourt diese Aussage mit zwei ruppigen nonvibrato-Dominante-Tonika-Tönen in die Wirklichkeit: Hier werden keine Kerzen ausgeblasen, hier fällt der Leuchter zu Boden!

Als ich vor kurzem das mir naheliegende Kultur-Radio einschaltete und „unter währender Musik“ in eine hinreißende Wiedergabe von Mozarts Linzer Sinfonie eintauchte, hätte ich vor Zeugen schwören wollen, dass das nur Harnoncourt sein konnte, der dem Orchester „Beine machte“ – ich hatte Recht, die Ansage bestätigte es. Wenige Tage zuvor noch saß ich in Dresden über Fux- und Zelenka-Manuskripte der Hofkapelle gebeugt und fand heraus, dass der letzte (!) Benutzer dieser Quellen vor fast fünf Jahrzehnten der junge Nikolaus Harnoncourt gewesen war – und es war mir eine hohe Ehre, meine Benutzer-Unterschrift unter die seinige zu setzen. Harnoncourt hat eine ganze Generation von Musikern gelehrt, dass Fach- wie Sach-Wissen und Quellen-Kenntnis einem sinnvollen Musizieren nicht abträglich, sondern geradezu „conditio sine qua non“ sind. Er hat damit das alte Ideal vom „musicus doctus“, dem auch durch sein Wissen um die Musik, um das Werk wissenden und deshalb selbstbewussten Musiker, wiederbelebt.

Nikolaus Harnoncourt wird mit dem Telemann-Preis der Stadt Magdeburg nicht ausgezeichnet, weil er bereits 1967, zum 300. Todestag des Komponisten eine Aufnahme jenes Oratoriums vorlegte, das Sie gleich im Anschluss hören werden, nicht für seine Aufnahme der „Tafelmusik“, nicht für die Aufnahme der „Ino-Kantate“, der „Darmstädter Ouvertüren“ oder ausgewählter „Doppelkonzerte“, sondern dafür, dass er das Bild der musikalischen Welt so überaus bemerkenswert und nachhaltig verändert hat.

Nikolaus Harnoncourt bekommt diesen Preis spät, sehr spät – aber dass er ihn im Jahr 2004 erhält, in dem sich der Todestag von sowohl Biber als auch Muffat, zweier erst durch ihn – und nur durch ihn! – wieder ins öffentliche Bewusstsein zurückgerufenen Komponisten zum 300. Mal jährt, mag ihn trösten.

Wir sind hier, sehr verehrte Damen und Herren, im Sendegebiet des MDR, des Mitteldeutschen Rundfunks. Schon im November bringt diese ARD-Anstalt eine CD mit den Nachrichten-„highlights“ des eigentlich noch laufenden, aber dennoch ganz offenbar bereits ad acta gelegten Jahres heraus: Als ich im vergangenen Dezember die brandneue, anno 2003 beinhaltende CD im Auto hörte, stutzte ich nicht, sondern bekam momentan einen Lachanfall über folgende Nachricht „Die Welt verneigt sich vor Michael Schumacher, der zum dritten Mal in Folge Weltmeister in Monza geworden ist“.

Neineinein, ganz sicher nein – und nochmals nein: Abgesehen davon, dass sich nicht „die Welt“, never ever, sondern allenfalls der Leser der Boulevard-Presse vor Michael Schumacher verneigt, täte sie – die Welt – besser daran, sich vor Nikolaus Harnoncourt zu verneigen… Ergreifen wir die Gelegenheit beim Schopfe und geben dem Künstler Nikolaus Harnoncourt tosenden Applaus für sein grandioses, uns alle bewegendes Lebenswerk!“

Der Maestro war sichtlich bewegt und hörbar amüsiert. „Selten habe ich Worte über mich gehört, die zugleich so witzig und so treffend, mir aus dem Herzen gesprochen waren.“ Nikolaus Harnoncourt fühlte sich verstanden, als Reinhard Goebel bei der Verleihung des Telemann-Preises der Stadt Magdeburg am 11. März auf ihn die Laudatio hielt. Er war gerührt – und er lachte schallend, an nicht nur einer Stelle jener Rede, die das Eis der Feierstunde brach. Aus dem preußisch-kühlen Empfang, den Telemanns Heimatstadt Magdeburg dem Maestro aus dem Süden bereitet hatte, wurde nach Goebels Rede ein feurig-hitziger Abend. Standing Ovations für den Telemann-Preisträger 2004 und seinen Concentus Musicus, eine mitreißende Aufführung von Telemanns Oratorium „Der Tag des Gerichts“, einhelliger Jubel der versammelten Telemann-Gemeinde. Wohl selten hat man in Sachsen-Anhalts Hauptstadt die Musik des großen Sohnes so stürmisch-bewegt, leidenschaftlich-erregt und in wahrer Größe vernommen wie an diesem Abend. Alle dienten sie Harnoncourts Ideal des unbedingt aussagekräftigen Musizierens, wie es Reinhard Goebels Worte so treffend beschrieben. Die zauberhafte Genia Kühmeier, bei der letztjährigen styriarte noch zart-seufzende Geliebte des großen Alexander in Händels „Alexanderfest“, mutierte zum zornigen Racheengel. Der Arnold Schoen berg Chor ließ das Weltende unheimlich heranrauschen, lieh den verdammten Sündern die Stimme der Verzweiflung und den Erlösten die Stimme der ewigen Anbetung. Der Concentus schließlich spielte so bildlich-treffend jede tonmalerische Pointe der Partitur aus, dass man von den Einfällen des ewig jungen alten Telemann überrollt wurde – wie die Menschheit am jüngsten Tag von Sturm und Erdbeben.

Um unsere Website für Sie benutzerfreundlich zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden. Details