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1968
1959 - 1968: Eine Revolution
…Vielleicht wird es eines größeren zeitlichen Abstands bedürfen, um verlässlicher darüber urteilen zu können, in wie weit die Entwicklung der Positionen der „Historischen Aufführungspraxis“ ein Seitenzweig des gesellschaftlichen Aufbruchswillens in den fünfziger und sechziger Jahren war. Zumal das Erforschen von uralten Musikmanuskripten auf den ersten Blick nichts mit den studentischen Debatten um Revolution und Vietnamkrieg zu tun haben scheinen. Und doch ist da etwas Widerständiges in diesen zehn Jahren des Nikolaus Harnoncourt, der eine eigentlich auf Lebenszeit angelegte feste Orchesterstelle bekleidet und damit eine größer werdende Familie ernährt: Da gibt es den besessenen Sammler von alten Instrumenten, den unermüdlichen Forscher und Experimentator, dessen Vision es ist, das verschüttete Wissen aus längst vergangenen Epochen wieder zum Sprechen zu bringen. Ort der Konkretisierung ist der inzwischen regelmäßig auftretende Concentus Musicus Wien. Der Untergrund unter dem ordentlichen Orchestermusikerleben sozusagen, die Wohngemeinschaft der Unkonventionalität, in der inzwischen aber ganz professionelle Arbeitsbedingungen herrschen. Denn aus den tastenden Anfängen sind inzwischen Erkenntnisse gewachsen. Aus den Vermutungen, wie denn ein bestimmtes, seit Jahrhunderten ungehörtes Instrument zu spielen sei, sind durch Spielerfahrung Gewissheiten geworden. Und aus der langen Beschäftigung mit den Quellen sind Erkenntnisse darüber geronnen, dass die barocke Musik mit ihren Zuhörern redet. Dass sie Kommunikationscodes benutzt, die regelhaft und verständlich sind, wenn man sie denn kennt und ernst nimmt. Diese Kommunikation wird jetzt in Konzerten erprobt. Erst in einer Reihe im Palais Schwarzenberg, dann im Wiener Konzerthaus. Erste Tourneen folgen, und Aufnahmen. Rundfunk und Schallplatte sind zur Verbreitung von neuem musikalischem Gedankengut unerlässlich. Und die Stimme aus dem Untergrund findet nach und nach Gehör. Und auch deshalb sollte man darüber nachdenken, ob Nikolaus Harnoncourts Idee von der „Musik als Klangrede“ nur in der barocken Rhetorik, oder nicht etwa auch in der Diskurstheorie der 68er wurzelt. Beide glauben an das Wort. Und das wohl nicht zufällig...
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