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1978
1969 - 1978: Vorhang auf
…Als der deutsche Soziologe Klaus Theweleit seine groß angelegte Buchtrilogie über den Künstler in der europäischen Geschichte in Angriff nimmt, versäumt er es nicht, darauf hinzuweisen, warum er diese Arbeit überhaupt beginnt. Es sei ein Erweckungserlebnis gewesen, als er die Aufführung von Monteverdis „L’Orfeo“ aus dem Zürcher Opernhaus unter Nikolaus Harnoncourt und in der Regie von Jean-Pierre Ponnelle sah. Augenblicklich und unvergesslich sei ihm klargeworden, hier an die Wurzel der westlichen Kultur geführt worden zu sein, sagt Theweleit weiter, und so entsteht der Anfang zu seinem Buch „Orpheus/Eurydike“. Der Soziologe sei auch deshalb hier erwähnt, weil über diesen außermusikalischen Umweg vielleicht deutlicher werden kann, was Nikolaus Harnoncourts Weg an die Opernbühne wirklich bedeutet. 1972 hatte er erstmals in der Mailänder Piccola Scala Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in Patria“ dirigiert. Und 1975 startet am Opernhaus in Zürich mit „L’Orfeo“ die zyklische, szenische Aufführung der drei bis heute erhaltenen Musiktheaterwerke von Claudio Monteverdi. Diese Aufführungen sind schockierend, unerwartet und machen Geschichte. Natürlich gab es schon früher Versuche, Monteverdis Musik für die Bühne zu retten. Große Komponisten oder redliche Bearbeiter hatten sich daran gemacht, die Stücke für ein modernes Orchester zu adaptieren. Nikolaus Harnoncourt aber will zeigen, was das Original zu sagen hat. Und tatsächlich, das Original spricht, nicht nur verständlich, sondern fesselnd. Dramatischer, unmittelbarer, direkter, als es jede Modernisierung gekonnt hätte. Und so bringt der Dirigent jenes scheinbare Paradoxon der Historischen Aufführungspraxis zur Auflösung, dass die anscheinend so alte, so vergangene, so unverständliche Musik des frühen Barock dann am klarsten zu einem heutigen Publikum redet, wenn man sie mit den Instrumenten, den Spieltechniken und im Bewusstsein der künstlerischen Absichten der Zeit ihrer Entstehung zum Klingen bringt. Und auf der Opernbühne kann der unmittelbare Beweis der szenischen Wirksamkeit der Musik gegeben werden. Mochten traditionelle Hörgewohnheiten im Konzertsaal oder der Kirche noch häufig den Blick auf die „Alte Musik“ verstellen – auf der Opernbühne tritt der Erfolg der Methode unzweifelhaft und direkt zu Tage. Von Publikum und Presse als Triumph bewertet. So öffnet Nikolaus Harnoncourt einem brachliegenden Repertoire die Bühnen der Gegenwart – dass er persönlich dabei den Schritt vom Ensembleleiter am Instrument zum Dirigenten macht, ist nur konsequent, weil notwendig zur Verwirklichung. So wie es das Bild jener entscheidenden zehn Jahre im künstlerischen Leben Nikolaus Harnoncourts vervollständigt, dass parallel zur Arbeit an der Szene gemeinsam mit Gustav Leonhardt die enzyklopädische Arbeit an der Gesamtaufnahme des Kantatenwerks Johann Sebastian Bachs beginnt – als grundierte die Arbeit am Kosmos Bach die Bühnenkarriere wie ein beständiger Kontrapunkt des Denkens und Handelns. Wobei die 1970 erschienene Ersteinspielung von Bachs Matthäuspassion auf alten Instrumenten, mit Knabenstimmen und Countertenören, d i e Revolution der Bach-Deutung schlechthin war. Sie löste aus, was heute selbstverständlich ist: Originalinstrumente in Bachpassionen zu benutzen, die Doppelchörigkeit auch bei den Solisten ernst zu nehmen und damit auf die Originalpartitur zu vertrauen…
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